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Leben · Leipzig · 1723-1730

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Ich komme nach Leipzig, an den Ort, wo man die ganze Welt im kleinen sehen kann.

Leipzig Gotthold Ephraim Lessings Kommentar aus dem Jahr 1749 zeigt, dass der junge Dichter von der Vielfalt der Stadt beeindruckt ist. An der Kreuzung zweier wichtiger Fernstraßen gelegen, ist Leipzig im 18. Jahrhundert ein bedeutender Handels- und Kulturknotenpunkt. Die Via Imperii, die von Italien bis zur Ostsee führt, trifft hier auf die Frankfurt am Main mit Schlesien verbindende Via Regia. Im Jahr 1497 verlieh Kaiser Maximilian I. der Stadt an der Pleiße das Messerecht. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Leipzig zu einem Treffpunkt in- und ausländischer Kaufleute, die nicht nur Waren, sondern auch Nachrichten und Kultur aus aller Welt mit sich führten. Leipzig ist Sitz vieler Verlage und Notendruckereien. Über die Konten der Leipziger Händler werden zwei Drittel des sächsischen Binnenhandels abgewickelt. Das in die Stadt hineingetragene Geld sorgt für Wohlstand und Fortschritt; seit 1701 gibt es Straßenlaternen, wie im mondänen Vorbild Paris.

Durch die Geldquelle Handel bildet sich eine feingestufte Zunft- und Ständehierarchie heraus. Ganz unten stehen Handwerker, Tagelöhner und Stadtsoldaten, denen weniger als 300 Taler zum Leben bleiben. Wer mehr als 10'000 Taler besitzt, darf sich zur Oberschicht zählen, die aus reichen Kaufleuten, Handelsherren, Universitätsprofessoren und Adel besteht. Ganz oben in der Hierarchie und zuständig für die Regierungsgeschäfte der knapp 30'000 Einwohner ist der Leipziger Stadtrat. Der Rat besteht aus etwa 15 Mitgliedern, die vom Kurfürsten auf Lebenszeit in dieses Amt berufen werden. Es gibt drei Bürgermeister. Jeweils für ein Jahr übernimmt einer dieser Herren den Vorsitz, dann wird gewechselt. Entscheidungen werden immer im Konsens getroffen, und daher vertritt der Rat tendenziell bewahrende und konservative Positionen. Im Jahr 1722 liegt das Bürgermeisteramt beim 68jährigen Appellationsrat Abraham Christoph Plaz, dem 61 Jahre alten Adrian Steger und dem 50jährigen Juristen Gottfried Lange.

Westportal der
Thomaskirche Leipzig ist Hochburg der altlutherischen Orthodoxie. Hier fand im Sommer 1519 die Disputation zwischen Johannes Eck als Vertreter der altkirchlichen Position und den Reformatoren Andreas Bodenstein und Martin Luther statt. Die geistliche Behörde der Stadt, das Konsistorium, wacht über vier Kirchen: St. Thomas, St. Nikolai, Neue Kirche und Peterskirche. Eine fünfte Kirche, die Paulinerkirche untersteht direkt der Universität. Während des Gottesdienstes bleibt man in den beiden Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai unter seinesgleichen. Es gibt eine Rangfolge, vom einfachen Stehplatz über Bänke bis zu den Logen, die von der Oberschicht angemietet werden.

Die Universität Leipzig wurde 1409 gegründet und erhielt 1543 die Gebäude des ehemaligen Klosters St. Pauli und die Kirche als Erweiterung. Die "Alma mater lipsiensis" zählt im 18. Jahrhundert zu den größten Hochschulen Deutschlands. Wichtigster Bereich ist die Theologische Fakultät. Die Universität untersteht direkt dem Land Sachsen, nicht der Stadt, und ihre Mitglieder zahlen auch keine Steuern an Leipzig. Das Verhältnis zwischen Hochschule und Rat ist nicht das beste - es ist geprägt durch Rivalitäten und Misstrauen. Man kontrolliert genau, dass der andere sich nicht zuviel herausnimmt.

Leipzig, 1723: Der alte Thomaskantor Johann Kuhnau starb bereits im Sommer letzten Jahres und das Amt ist damit seit fast einem Jahr unbesetzt. Doch hier laufen die Amtsdinge etwas langsamer als in Köthen. Die Benennung eines neuen Thomaskantors ist Sache des Rates, die Herren Bürgermeister sind zwar alle studiert, weise und weltgewandt, verstehen aber nicht viel von Musik. Und sie hätten am liebsten einen Leipziger, oder wenigstens einen, den man in Leipzig kennt. Für die Stelle favorisiert wird der Komponist Georg Philipp Telemann, Kantor und Musikdirektor der vier Hauptkirchen in Hamburg, "weil er nun wegen seiner Music, in der Welt bekant wäre", so das Ratsprotokoll. Doch Telemann sagt kurzfristig ab, nachdem sein Lohn in Hamburg um 400 Taler erhöht wird. Also wird das Amt zunächst Johann Christoph Graupner angeboten, Kandidat Nummer zwei auf der Wunschliste des Rates "[man] kenne H. Graupner nicht spezial, jedoch mache er eine gute Gestalt und schiene ein feiner Mann zu sein, glaube auch, daß er ein guter Musicus wäre". Doch der feine Mann muss ebenfalls absagen, er wird von seinem Dienstherrn nicht entlassen. In der näheren Wahl sind jetzt noch der in böhmischen Diensten stehende Kapellmeister Johann Friedrich Fasch und der Organist der Neuen Kirche Georg Balthasar Schott, sowie der hochfürstliche Kapellmeister zu Köthen, Johann Sebastian Bach. Das gerne zitierte Wort von Ratsherr Abraham Christoph Plaz: "da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müße man mittlere nehmen, es sey von einem zu Pirna ehmals viel gutes gesprochen worden", zielt zwar nicht direkt auf Bach, sondern vermutlich auf einen weiteren Mitbewerber Schulmeister Christian Heckel, dennoch zeigt es aber, dass sich die Begeisterung des Rates über die noch zur Verfügung stehenden Bewerber in Grenzen hält.

Am 19. April 1723 unterschreibt Bach einen Revers, in dem er sich bereit erklärt, im Fall seiner Wahl einen Entlassungsschein aus seiner alten Stelle mitzubringen, seine Lehrtätigkeit an der Thomasschule gewissenhaft zu verrichten, nach Bedarf Gesangsunterricht zu erteilen, kein zusätzliches Geld zu fordern, sollte er sich beim Lateinunterricht vertreten lassen, kein Universitätsamt anzunehmen, und Leipzig nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis des Rates zu verlassen. Außerdem erteilt der Rat die Auflage

zu Beybehaltung guter Ordnung in den Kirchen die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zulang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere.

Thomasschule

Signum J. S. Bach Drei Tage später, am 22. April, wählt der Rat einstimmig Bach zum Thomaskantor und am 5. Mai 1723 wird er schließlich in der großen Schulstube in sein neues Amt eingeführt. Zuvor musste sich der neue Kantor gegenüber dem Konsistorium in einer Glaubensprüfung als firm in orthodoxer Theologie erweisen. Besonderen Wert wird in Leipzig auf die Abgrenzung gegenüber dem Kalvinismus gelegt. Kalvinismus bedeute Irrglaube, Ketzerei und führe zum Verlust der himmlischen Seligkeit. Dem stimmt Bach, der bis vor wenigen Tagen am Hofe eines Ketzers angestellt war, zu und unterschreibt auch die sächsischen Visitationsartikel, die allen Kirchen- und Staatsbeamten des Landes vorgelegt werden. Danach werden freundliche Worte gewechselt. Appellationsrat Plaz: "Es möchte Bach in guter renomme' seyn u. laße Er sich deßen person gefallen". Auch Bürgermeister Lange gibt sich optimistisch: "Wenn Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann, wegen seiner Conduite, vergeßen".

Die Thomasschule ist eine Armenschule mit Internat, und gerade vor Bachs Dienstantritt in erbärmlichem Zustand. Sein Vorgänger Kuhnau klagte, dass alle Schüler die Krätze hätten und der Chorgesang darunter leiden müsse. Seit über 200 Jahren wurde an dem Gebäude nichts gemacht - der Rat überlässt es seinem langsamen Verfall. Wenn man die Eingabe von Bachs Kollegen Magister Pezold durchliest, bekommt man eine Vorstellung der unwürdigen Zustände:

So ist hiernächst dieses Schul-Gebäude also beschaffen, daß auch der rigoroseste praeceptor, wenn er des Nachts so herum steiegn solte, in augenscheinlicher Gefahr schweben würde, die Treppen sind böse hoch, und stieger, denen selbe fehlen offters feste Lehnen und da ... alles an einander gebauet ist, so muß man hier vier, oder vielmehr sechß solche Treppen steigen, welches eine Last wäre, unten welcher jedermann unterliegen muß.

Man erwege zugleich das häuffige Ungeziefer, in dem Ratten und Mäuse in solcher Menge auff der Thomas-Schule angetroffen werden, daß sich auch am hellen Tage hervor kommen, ja um 1 Uhr Nachmittags mir etliche mahl mitten auff denen Schul-Treppen begegnet sind.

Wenigstens die Kantorwohnung, die sich in der Schule befindet, lässt der Rat vor Bachs Dienstantritt renovieren. Schul- und Internatsräume müssen noch ein paar Jahre warten. Am 29. Mai 1723 druckt der "Hollsteinische unpartheyische Correspondent", das Leipziger Wochenblatt, den folgenden Bericht:

Am vergangenen Sonnabend zu Mittage kamen vier Wagen mit Hausrat beladen von Köthen allhier an, so dem gewesenen dasigen Fürstlichen Kapellmeister als nach Leipzig vozierten Cantor Figurali zugehöreten. Um zwei Uhr kam er selbst nebst seiner Familie auf zwei Kutschen an und bezog die in der Thomasschule neu renovierte Wohnung.

Bach beginnt direkt mit seinen Arbeit. Die Schüler müssen am Vormittag von sieben bis zehn Uhr und nachmittags von zwölf bis drei Uhr in Musik und Kirchenlatein unterrichtet werden. Montags, dienstags und mittwochs kommen noch jeweils zwei Stunden Gesangslehre hinzu und freitag morgens besucht der Thomaskantor mit seinen Schülern den Gottesdienst. In jeder vierten Woche hat er Aufsicht und muss im Schulgebäude übernachten. Zusätzlich zu den Lehrtätigkeiten ist Bach für die Musik in den vier Leipziger Kirchen verantwortlich und muss jede Woche eine Kantate einstudieren und sonntags aufführen. Desweiteren hat er für die Musik bei städtischen Feierlichkeiten - Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen zu sorgen und, wie im Vertrag vereinbart, bei Bedarf für die Ratsmitglieder zu musizieren. Eine ganze Menge Pflichten, selbst für ein Musikgenie wie Bach! Zur Seite stehen im ihm ein paar Stadtmusiker (vier Bläser, drei Streicher und ein Geselle) und seine Präfekten - Thomasschüler, die den Kantor beim Dirigieren vertreten.

Viel Musik und viele Kinder

Doch anstatt sich auf den Unterricht und die Aufführung existierender Stücke zu beschränken, beginnt Bach mit der Verwirklichung seiner Idee der regulierten Kirchenmusik zur Ehre Gottes. Sonntag für Sonntag komponiert er eine Kantate nach der anderen. Die von seinem Vorgänger Johann Kuhnau und Vorvorgänger Johann Schelle hinterlassenen Werke sind ihm nicht gut genug. Mit den Jahrgängen 1723/24 und 1724/25 entstehen so etwa 100 neue Werke von bis dahin nie gehörter Qualität. Die Texte dafür schreiben ihm Christiane Mariane von Ziegler, eine Witwe aus einer einflussreichen und angesehenen Leipziger Juristenfamilie und Christian Friedrich Henrici, der sich schon unter dem Pseudonym Picander als Verfasser deftiger erotischer Gedichte und Dramen einen Namen gemacht hat. Henrici arbeitete sich vom Oberpostkommissar zum städtischen Steuereinnehmer hoch und baute nach und nach seine Freizeitbeschäftigung zur Hauptprofession aus. Die Familien Bach und Henrici sind auch privat befreundet. Henricis Frau ist Taufpatin der 1737 geborenen Tochter Johanna Carolina.

In Leipzig zwischen 1723 und 1729 geborene Kinder:
Christiana Sophia Henrietta* 26.02.1723† 29.06.1726 (Leipzig)
Gottfried Heinrich* 26.02.1724† 26.02.1763 (Naumburg)
Christian Gottlieb* 14.04.1725† 21.09.1728 (Leipzig)
Elisabeth Juliana Friederica* 05.04.1726† 24.08.1781 (Leipzig)
Regina Johanna* 10.10.1728† 25.04.1733 (Leipzig)

Im Gegensatz zu Köthen bleibt Anna Magdalena in Leipzig Hausfrau und Mutter. Aber auch hier gibt es viel zu tun. Johann Sebastian Bach ist oft unterwegs um Orgeln zu prüfen oder Konzerte zu geben. Allein in den ersten beiden Jahren sind Reisen nach Kassel (September 1723), Störmthal (November) und Gera (Juni 1724) verbrieft. In den ersten sechs Jahren werden fünf Kinder geboren, von denen allerdings nur zwei ihre Eltern überleben werden.

Der schon kinderreiche Haushalt beherbergt ständig Gäste, die den großen Bach treffen wollen. Klavier- und Gesangsschüler gehen ein und aus. Und alle werden von Anna Magdalena versorgt. Außerdem unterstützt sie ihren Gatten bei der Korrespondenz, wie vom Sohn Carl Philipp Emanual überliefert wird:

Bey seinen vielen Beschäftigungen hatte er kaum zu der nöthigen Correspondenz Zeit, folglich weitläuftige schriftliche Unterhaltungen konnte er nicht abwarten. Desto mehr hatte er Gelegenheit mit braven Leuten sich mündlich zu unterhalten, weil sein Haus einem Taubenhause u. deßen Lebhaftigkeit vollkommen gliche. Der Umgang mit ihm war jederman angenehm, u. oft sehr erbaulich.

Nikolaikirche Doch 1724 ist der Umgang zwischen Bach und dem Konsistorium weder angenehm noch sehr erbaulich. Bereits im zweiten Jahr als Thomaskantor geraten Komponist und Kirchenbehörde aneinander. Bach plant anlässlich des Osterfestes sein bisher umfangreichstes Werk, die Passionsmusik nach Johannes aufzuführen - in der Thomaskirche, weil diese die bessere Orgel hat und mehr Platz für Chor und Orchester bietet. Damit setzt er sich bewusst über einen Leipziger Brauch hinweg, wonach die Passionsmusik im jährlichen Wechsel in St. Thomas und St. Nikolai stattzufinden hat (Ratsbeschluss von 1721). In diesem Jahr wäre eigentlich St. Nikolai dran, aber Bach hat gute Gründe für St. Thomas. Außerdem hatte er das Konsistorium bereits rechtzeitig darauf hingewiesen, dass die Orgel und das Cembalo in der Nikolaikirche dringend repariert werden müssen - und war an den Rat verwiesen worden. Der Rat erklärte seinerseits, für die notwendige Renovierung wäre kein Geld da. Bach lässt daraufhin Ankündigungen für die Passionsmusik drucken und gibt als Ort kurzerhand die Thomaskirche an. Zufällig kommt seinem Vorgesetzten, Superintendenten Salomo Deyling ein solcher Zettel zu Gesicht. Bach wird vier Tage vor der Aufführung vor das Konsistorium geladen und erhält eine Rüge. Bach gibt zu

daß er geirret, hoffe aber man werde ihm als einen frembden, so hiesiger Gewonheiten nicht kundig, perdonieren. Künfftig wolle er sich beßer in achte nehmen, und in dergleichen Dingen mit mir seinem Superintendenten communiciren, welches ihm auch ernstlich iniungiret worden.

Er erreicht aber auch, dass die Zustände in der Nikolaikirche verbessert werden, schließlich verpflichtet ihn sein Vertrag, Kirchenmusik "nach besten Kräften" zu machen. Das Konsistorium zahlt für die Reparatur von Orgel, Cembalo und Chorpodesten. Bach muss neue Ankündigungen drucken lassen, dass die Passionsmusik nun doch in der Nikolaikirche aufgeführt würde. Ihr Text lautet kurz und knapp:

Da nach verfertigtem Druck der Passionstexte vom Hochedlen und Hochweisen Rat beliebt worden, daß die Aufführung künftigen Freitag in der Kirche St. Nicolai geschehn soll, so hat man es denen Herrn Zuhörern hiermit wissend machen wollen.

Neuer Gottesdienst

Für den dritten Kantatenjahrgang lässt Bach sich mehr Zeit. Er greift auf existierende Texte von Erdmann Neumeister und Georg Christian Lehm zurück. In die gleiche Zeit fällt sein Streit mit der Universität um die Bezahlung für den Neuen Gottesdienst. In der Paulinerkirche wurde ursprünglich nur an hohen Feiertagen Gottesdienst gehalten, der Alte Gottesdienst. Dreizehn Jahre vor Bachs Einstellung wird die Kirche dann jeden Sonntag genutzt. Die musikalische Verantwortung für diesen Neuen Gottesdienst liegt bei Universitätsmusikdirektor Johann Valentin Görner. Die Musik des Alten Gottesdienstes ist traditionell Sache des Thomaskantors. Der hat an den Feiertagen seinen festen Zuhörerkreis aus Professoren und Studenten und kann dabei zeigen, was er musikalisch zu leisten vermag. Wegen der studentischen Unterstützung bei den Kantatenaufführungen ist Bach auf ein gutes Verhältnis mit der Hochschule angewiesen. Doch Geld bekommt er für diese Arbeit nicht, da sie nirgendwo in seinem Vertrag festgeschrieben ist. Nach mehreren Monaten ohne Honorar fragt Bach bei der Universitätsleitung nach und wird abgewiesen. Nach einem weiteren Jahr, am 14. September 1725 wendet er sich daraufhin mit einer Eingabe an seinen König und "Churfürsten", Friedrich August II.. Bachs Grundgehalt ist mit 100 Talern pro Jahr relativ gering und für die Ernährung seiner großen Familie muss er um jedes zusätzliche Einkommen kämpfen. Außerdem zahlt er an Konrektor Siegmund Friedrich Dresig die Hälfte seines Lohns, 50 Taler, damit dieser den lästigen und zeitraubenden Lateinunterricht übernimmt. Wenige Tage später bekommt die Universität aus Dresden die Anweisung, Bachs Beschwerde stattzugeben. Doch erst nach zwei weiteren Briefen erhält er seinen Lohn und das Recht am Alten Gottesdienst - schwarz auf weiss dokumentiert. Dass sich der König persönlich für den Thomaskantor einsetzt, zeigt, dass Bach am Hof beträchtliche Wertschätzung genießt. Kein Wunder, hat er doch vor ein paar Tagen in Dresden zwei königliche Orgelkonzerte gegeben.

Und nicht nur beim König, auch bei den Studenten ist der neue Herr Bach beliebt. Als am 6. September 1727 die Kurfürstin Christiane Eberhardine, Frau von August dem Starken stirbt, fragt der Student Hans Carl von Kirchbach nicht Görner, sondern Bach, ob er die Musik für eine Trauerfeier ausrichten könne. Dieser Akt ist eine höchst politische Sache, da die verstorbene Königsmutter - anders als ihr Ehemann und ihr regierender Sohn - nicht zum katholischen Glauben konvertierte, sondern evangelisch blieb und sich weigerte, ihrem Gatten zur Krönung nach Polen zu folgen. Statt dessen zog sie alleine nach Sachsen, auf ihren Witwenteil Pretzsch. Bach erhält 12 Taler für die Komposition und Aufführung einer Trauerode. Doch Musikdirektor Görner erhebt bei der Universität Einspruch. Die Leitung lädt Kirchbach vor und verlangt, statt Bach Görner zu beauftragen. Görner ist schließlich Leipziger und studiert. Bach ist keines von beidem. Zunächst weigert sich Kirchbach und droht, die ganze Feier abzusagen, doch schließlich gibt er nach und zahlt Görner ebenfalls 12 Taler - fürs Nichtstun.

Matthäuspassion

Die ersten Jahre in Leipzig sind, was die Anzahl der entstandenen Musikstücke betrifft, die fruchtbarsten in Bachs Komponistenleben: Matthäuspassion

In Leipzig zwischen 1723 und 1729 entstandene Werke:

Am Karfreitag 1729 endlich führt Bach das Werk auf, an dem über ein Jahr lang komponiert hat: die Matthäuspassion. Drei Stunden Musik für zwei Orgeln, zwei Chöre und zwei Orchester. Nie wieder wird er für eine derartig große Besetzung schreiben. Über die Reaktionen der Zuhörer ist folgendes überliefert:

Auf einer Adelichen Kirch-Stube waren viel Hohe Ministri und Adeliche Damen beysammen. Als nun diese theatralische Music anging, so gerieten alle diese Personen in die größte Verwunderung, sahen einander an und sagten: Was soll daraus werden? Eine alte Adeliche Witwe sagte: Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera Comedie wäre.

Dieses gewaltige und großartige Werk ist überhaupt nicht im Sinne des Rates. Man hatte Bach ja schon vor fünf Jahren für seine Johannespassion gerügt und jetzt hat er es musikalisch auf die Spitze getrieben. Als der Kantor dann noch ein Mitspracherecht für die Aufnahme von Thomasschülern fordert (weil er mit der Qualität seines Chores nicht zufrieden ist), bekommt er zu hören: "Der Cantor ist incorrigibel!". Er würde zu oft Urlaub einreichen, würde in den Chorproben den Präfekten die ganze Arbeit aufhalsen und sogar beim Lateinunterricht lasse er sich vertreten. Der Rat beschließt seine Besoldung zu kürzen. Niemand widerspricht der Zusammenfassung von Ratsherr Christian Ludwig Stieglitz: "Der Cantor tuet nichts!".

Nach knapp sechs Jahren hat Bach alle Autoritäten - Konsistorium, Universitätsleitung und Rat - gegen sich. Er ist bereit, für sein höchstes Ziel auch ohne die Unterstützung der drei zu kämpfen. Was ihm wirklich wichtig ist, erfährt man aus dem Brief an den Leipziger Rat, den Johann Sebastian Bach im August 1730 absendet: seine Musik.

Windrose 1723-1750 · Leipzig, Teil 2: Krause & Krause und der königliche Hofkompositeur (1730-1740)